Die Wallfahrt hat Vorfahrt

Die Wallfahrt hat Vorfahrt


Von den Leiden und Freunden eines Kevelaer-Pilgers

Montag, 19.00 Uhr. Der Organist hat die Register gezogen, als ob es gegen die Mauern von Jericho ginge. Angehörige umspähen die Kirchenbänke von St. Georg in Bocholt nach ihren Pilgern, das knappe Tausen Stimmen wirft die geballte Kraft seines „Großer Gott, wir loben dich” in die hohen Gewölbe – die Wallfahrt ist zu Ende.

Unser Pilger, der neue, von dessen Leiden und Freuden hier die Rede sein soll, sitzt da mit kaputten Fußsohlen und erhobener Seele. Viele Jahre seines Lebens hat er keine Ahnung gehabt, wie eine Wallfahrt inwändig aussieht. Er hat mit vielen anderen gedacht, das ist doch überholt, das ist übertrieben katholisch und hemmt die Zwiesprache mit den evangelischen Brüdern ! Er hat herrliche Ausreden gehabt und sogar sehr gute und stichhaltige und selbstverständlich auch keine Zeit. Aber heuer hat es ihm keine Ruhe gelassen, heimlich hat es ihn immer schon in der hintersten Ecke seines Herzens gewurmt, dass er noch nie mitgegangen ist, und auf einmal hat er auch Zeit gehabt. Und nun, am Ende der drei Tage, an denen er seine Heimstatt verlassen und sich in die Pilgerschaft begeben hat, zieht er Bilanz. Auf der Haben-Seite findet er ein gediegenes Plus von Frieden, Freude und Dankbarkeit, ein mehr an Glaube, Hoffnung und Liebe.

Samstag, 5.45 Uhr. Das Köfferchen im Planwagen, der Pilger bei seinesgleichen, Männer und Frauen streng getrennt, schnell noch das grüne Heftchen ereorben und das Fähnchen an den Kragen geheftet. Seit 1733 gehen Bocholter zu Fuß nach Kevelaer. Jeder sucht sich seinen Nachbarn in den Zweierreihen rechts und links von den Vorbetern. Noch ein prüfender Blick zum Himmel (geregnet hat es gestern) und 550 Bocholter, darunter erstaunlich viele Jugendliche, verlassen für drei Tage ihre Stadt. Vergnügt sehen sie, dass die Polizei, ihr Freund und Helfer, den Autoverkehr um sie herum in eine Art Ehrengarde umfunktioniert: Die Wallfahrt hat Vorfahrt !

In seinem ganzen Leben hat unser Pilger noch nie so lange an einem Stück gebetet. Das Erstaunliche, er findet weder Litanei noch Rosenkranz zu lang. Den Seinigen hat er nicht mitgenommen. Hat er ihn überhaupt noch ? Tante Minna, die Patin, hat einen zur Erstkommunion geschenkt. Gelegentlich ist er durch die Kinderhand geglitten, aber ein einziges Gesätzlein ist ihm immer noch zu lang erschienen. Niemand hat ihn in die Weisheit dieses betrachtenden Gebetes eingeführt. Hier lernt er sie kennen und lieben.

Pause in Empel. Durst, erste Blasen, es ist ein heißer Tag geworden. Weiter ! Mitten in den Glorreichen Rosenkranz tuckert ein Rasenmäher dicht daneben. Er stört. Große Pause in Marienbaum. Das ehrwürdige Tantum ergo in der alten, schönen, kühlen Kirche. Stärkung aus Brotbeutel oder Gaststätte. Liegen am Bahngleise, anstehen bei Massage und Blasenaufstechen, kleine Leiden und – große Freude dabeizusein.