Nu kiek es an, Bokeltse Junges in Kävelaer

Nu kiek es an, Bokeltse Junges in Kävelaer


(Zitat Clemens August Graf von Galen, Bischof von Münster, anlässlich der Begegnung mit Bocholter Messdienern 1945 in Kevelaer)

Die Bocholter sind sehr stark der Wallfahrtstradition nach Kevelaer verbunden, was sich neben den Radwallfahrten der Männer („Weißmützen”) bzw. der Frauen, den Omnibus- und früher den Bahn-Wallfahrten besonders in den Fußwallfahrten darstellt. Und das pflegen die Bocholter seit über 270 Jahren.

Hindernisse und Behinderungen begleiten diese Tradition, wie im Sonderheft „Unser Bocholt” über die Wallfahrtsgeschichte bis 1983 ausführlich dargestellt wird. Darüber hinaus erinnert sich heute gerne eine damalige Messdienergruppe von St. Georg, auch in der turbulenten Zeit von 1945 die Wallfahrtstradition aufrechterhalten zu haben. Immerhin bestand zur Zeit ein Verbot der Militärregierung, welches Menschenansammlungen größeren Ausmaßes untersagte. Unbekümmert und nichtwissend solcher Erwägungen begeisterte sich die Messdienergruppe von St. Georg unter dem Messdienerkaplan Kersten an der Idee, nichtsdestoweniger eine Wallfahrt durchzuführen. Maßgeblich beteiligt an dem Gedanken war Johannes („Janno”) Tebroke, später bekannt als Pfarrer emeritiert an St. Georg, der schon 1944 an der durch feindliche Fliegertätigkeit beeinflussten Wallfahrt teilgenommen hatte. Damals hatte er eine Woche lang die Schulbutterbrote gesammelt und war am Samstag nach der Pilgermesse in Turnschuhen gegen den Willen von Mutter Gertrud mitmarschiert.

Nun bot sich für agile Messdiener unter der Leitung von Ernst Seggewiß die Gelegenheit einer Wallfahrt ins Ungewisse, aber mit dem festen Ziel Kevelaer, zu starten. So setzte Kaplan Kersten in der Notkirche von St. Georg, der Schreinerei Böwing auf der Weidenstraße, die offizielle Pilgermesse für 5.00 Uhr morgens an. Gerechnet hatte man nicht damit, dass zu dieser Zeit noch eine Ausgangssperre bestand. So wurde Georg Weber auf dem Hinweg von einem deutschen und einem englischen Polizisten angehalten. Der Bocholter Polizist konnte dem Engländer aber alles klarmachen, so dass sich der englische Militärpolizist dem Hinweis auf eine Wallfahrt nicht verschließen konnte.

Zuvor hatte Bäcker- und Konditormeister Schröer, Vorstandsmitglied bei den Fußpilgern, dafür gesorgt, dass die Brotrationen aus den damaligen Lebensmittelkarten ein bischen aufgebessert worden waren. Die Verpflegung und das Gepäck wurde auf einen Fahrradanhänger geladen, der dann abwechselnd gezogen wurde. So konnte sich die Gruppe mit den Brüdern Hansi und Tonius Nyenhuis, den Vettern Johannes und Karl Tebroke, Georg Weber, Paul Elschot, Albert Hustede, Josef Benning, Kurt Lensing, Wilm Kurenbach u.a.m. beruhigt auf den Weg machen. Da Paul Elschot seine Mandoline mitgenommen hatte, war Rees unter Singen von frommen Marienliedern und markigen Wanderliedern bald erreicht.Hier ergab sich das erste Hindernis, wo die Amerikaner mit einer Pontonbrücke den Übergang über den Rhein geschaffen hatten. Ein hünenhafter, schwarzer Amerikaner, bewaffnet mit einer Maschinenpistole, bewachte den Brückenanfang. Immerhin war zu der Zeit den Besatzern der Begriff von Werwolfgruppen, nämlich

Untergrundgruppen der Hitlerjugend bekannt, so dass der Bewacher zunächst eine Rücksprache mit seinem Vorgesetzten zu halten hatte. Erst ein Kevelaerbild mit der Trösterin der Betrübten von Janno und der zum Ausdruck gebrachte Wunsch, dass wir zur „Holy Mary” wollten, erbrachte uns nach längerem Palaver mit unseren fragmentischen Englischbrocken das Wohlwollen unseres Hünen für die Überquerung ein. Mit MP-gesicherten Bewachern an der Spitze und am Ende erreichten wir über die schwankende Brücke mit zitternden Knien die Reeser Schanz. Das war uns so in die Hose geschossen, das zunächst eine Frühstückspause eingelegt wurde, wonach wir feststellen mussten, dass unsere gesamten Vorräte zu Ende waren.

Aber mit Gottvertrauen ging es über Niedermörmter und Marienbaum durch die vom Krieg gekennzeichnete Landschaft mit Soldatengräbern, zerstörtem Kriegsmaterial (z.B. Lastensegler), verbrannten Häusern nach Kevelaer weiter.

Der Einzug hier gestaltete sich weniger spektakulär, denn Kevelaer war zu der Zeit Ausländerauffangstelle für Kriegsgefangene und deportierte Fremdarbeiter. Alle Hotels waren belegt, und selbst in der Basilika waren Menschenmengen auf Strohlagern untergebracht. Nur durch Beziehungen von früheren Wallfahrern aus der Gruppe und durch das Mitgefühl des Wirtes von St. Elisabeth durften wir dort im Dachgestühl übernachten (im schmalsten Hotel Kevelaers mit 3,50 m Breite und ohne Unterbett kein allzu bequemes Domizil). Wasserlassen war nur durch eine Dachluke in die Regenrinne erlaubt, wobei der jeweilige Deliquent von innen festgehalten werden musste. Bei solcher Gelegenheit erkannte einer auf der unten vorbeiführenden Straße den damaligen Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen. Es gelang uns auch, ihn anschließend zu erwischen und uns ihm vorzustellen. Er war hocherfreut und überrascht und kommentierte in bestem Münsterländer Platt: „Nu kiek es an, Bokeltse Junges in Kävelaer!”

Am Sonntag wurden die obligatorischen Pflichten - soweit möglich - erledigt, einschließlich der gesonderten Kreuzwegprozession. Viele der Kapellchen der Kreuzwegstationen waren durch Kriegseinwirkungen jedoch stark zerstört.

Ein Gutes hatte jedoch die Sondersituation Kevelaers in diesen Tagen. Durch den Status als Ausländerauffanglager war die Versorgungslage mit Lebensmitteln dort gesichert, und wir fanden Mittel und Wege, unsere Lebensmittelvorräte wieder üppig für den Rückmarsch aufzufüllen. Jedoch handelte es sich dabei ausschließlich um Maisbrot, das zwar wunderschön gelb und wie Kuchen aussah, aber beim Essen blieben die Zähne daran kleben.

So ausgerüstet verlief der Rückweg am Montag problemlos. Am Straßenrande in Bocholt standen zwar nicht die üblichen Zuschauer, aber so müde und beeindruckt wir von dieser ungewöhnlichen Wallfahrt waren, so besonders stolz waren wir darauf, am Erhalt der Tradition der Bocholter Kevelaerprozession mitgeholfen zu haben.

Bocholt, im November 2004
Karl Tebroke