
Ein Leben auf dem Pilgerpfad Bocholter erklärt das Geheimnis der Wallfahrt nach Kevelaer

Bild: © Stefan Prinz (BBV)
Von außen betrachtet wirkt Heinrich Kruse wie ein ruhiger, bodenständiger Mann. Doch wer mit ihm spricht, spürt schnell: In seinem Innern lodert ein Feuer – das Feuer des Glaubens, der Heimatverbundenheit und der Erinnerung. Seit Jahrzehnten ist der gebürtige Bocholter Teil der Fußprozession nach Kevelaer, eine der ältesten Wallfahrten der Region. Wie oft er mitgegangen ist, weiß er selbst nicht mehr. „Das weiß allein die Gottesmutter“, sagt er mit einem Lächeln, in dem sich Ehrfurcht und auch Stolz spiegeln.

Fester Termin
Die Wallfahrt, die jährlich am vierten Sonntag im August stattfindet, ist 450 Jahre alt. Ihren Ursprung nahm sie im nahen Marienbaum, bevor Kevelaer im 18. Jahrhundert zum neuen Ziel wurde. Für Heinrich Kruse begann alles, als er 13 Jahre alt war. Damals noch mit dem Fahrrad – später ging er die rund 50 Kilometer zu Fuß. Immer wieder, Jahr für Jahr. Auch dann, als er längst nicht mehr in Bocholt wohnte.
Kruse war Landtagsabgeordneter für die CDU und von 1985 bis 2005 Mitglied des nordrhein-westfälischen Landtags. 30 Jahre lang prägte er die Politik mit – doch sein Herz schlug stets auch für die Landwirtschaft. Als das Industriegebiet Mussum wuchs, verkaufte er seinen elterlichen Hof und zog in den 1990er-Jahren nach Sachsen-Anhalt, in die Nähe von Dessau. Dort kaufte er einen neuen landwirtschaftlichen Betrieb – ein mutiger Schritt nur wenige Jahre nach der deutschen Einheit. Und doch: Seine Wurzeln riss er nie aus. Jedes Jahr kam er zurück nach Bocholt, um mitzugehen. „Kevelaer ist mein Stück Heimat“, sagt er.
Mehr als ein religiöser Akt
Die Wallfahrt bedeutete für ihn stets viel mehr als nur einen religiösen Akt. Sie war ein Innehalten, ein Ausbrechen aus dem Alltag – körperlich herausfordernd, seelisch klärend. „Es ging ums Durchatmen, ums Zusammennehmen“, sagt Kruse. Die Wallfahrt als ein innerer Weg, auf dem man sich selbst begegnet.
Seit fünf Jahren kann er nicht mehr mitlaufen. „Das rechte Knie“, sagt er schlicht. Der Körper macht nicht mehr mit. Aber der Geist ist wach. Und das Herz voll Erinnerung. Er weiß genau, wann die Pilger welche Wegmarke passieren, kennt die Uhrzeiten auswendig. „Ich weiß genau, wann sie am Rhein sein werden“, sagt er schmunzelnd.

In der Kindheit geprägt
Kruses tiefer Glaube hat seine Kindheit geprägt. „Bis Kevelaer ist Ernte, danach ist Herbst“, sagte seine Mutter früher. Ein Satz, der zeigt, wie eng das bäuerliche Leben mit dem religiösen Jahreslauf verknüpft war. Im Mai wurde in der Familie abends der Rosenkranz gebetet. Die Marienverehrung war kein besonderes Ereignis, sie war Teil des Alltags. Auch heute betet Kruse noch – allein, in der Stille. Aber immer verbunden mit den anderen, mit der Gemeinschaft, mit denen, die den Weg nach Kevelaer heute noch gehen.
Früher, so erinnert er sich, war die Wallfahrt einfacher, aber auch beschwerlicher. Geduscht wurde nicht, gefeiert auch nicht. Man übernachtete bei Bauern im Stroh, den Proviant trug jeder selbst im Rucksack. Es war ein Marsch, kein Spaziergang. Und doch: „Ich habe den Marsch unterwegs geliebt“, sagt Kruse. „Diese besondere Art des Miteinanders – wortlos, aber tief verbunden.“
Ursprung war Marienbaum
Was viele heute nicht mehr wissen: Die Wallfahrt führte ursprünglich nur bis Marienbaum, etwa 30 Kilometer von Bocholt entfernt. Erst im Laufe des 18. Jahrhunderts wurde Kevelaer zum festen Ziel. Dort steht das Gnadenbild der „Trösterin der Betrübten“, zu dem seit Generationen Pilger strömen. Heinrich Kruse war einer von ihnen. Jahrzehntelang.
Er erzählt vom Moment des Ankommens: vom gemeinsamen Einzug in den Wallfahrtsort, vom feierlichen Gottesdienst, von der Berührung des Gnadenbildes – ein kurzer Moment, der alles bedeutet. Viele wissen, warum sie gekommen sind, auch wenn sie es mit Worten nicht erklären können.,
„Kevelaer war für mich immer wie ein geistiges Zuhause“, sagt Kruse. Und dann lacht er leise: „Vielleicht gehe ich innerlich immer noch mit. Jeden Schritt.“
So sitzt er an diesem Maitag auf einem Stuhl, die Hände gefaltet. Die Pilger werden im August wieder aufbrechen. Und Heinrich Kruse geht mit – nicht mit den Füßen, aber mit dem Herzen.